Spanien: Von den Plätzen in die Barrios

„Wir gehen nicht, wir expandieren!“. Die Bewegung 15M in Spanien hat die Besetzungen unzähliger öffentlicher Plätze beendet. Einen knappen Monat beherrschte sie durch dieses Protestmittel die Titelseiten der Tageszeitungen. Nun wurde beschlossen, sich zu transformieren, um nicht zu stagnieren.

 

„Wir müssen jetzt den Schwerpunkt in die Stadteilversammlungen verlagern, und die Menschen dort zu Wort kommen lassen.“, erklärt Maria, arbeitslose Psychologin während den Abbauarbeiten am 13. Juni in der mittlerweile legendären „Puerta de Sol“ in Madrid.

Und um glaubhaft zu machen, dass die Bewegung mit dem Ende der Platzbesetzungen keineswegs leiser treten wird, bildet sich um Mitternacht eine Spontandemonstration aus mehreren tausend Menschen, die die Polizei drei Stunden lang in Atem hält: „El pueblo unido, jamás será vencido! – Das vereinte Volk ist unbesiegbar!“, hallt es durch die Straßen der nächtlichen Metropole.

 

Die zuvor abgehaltene zweite Koordinierungsversammlung der mittlerweile über 120 Stadteilversammlungen im Großraum Madrid war gut besucht. Die Diskussion ist lebendig, Aufbruchsstimmung steht den Leuten ins Gesicht geschrieben. Die Bewegung löst sich damit aus der Lethargie, die sich über die Camps auf den Plätzen zu legen begonnen hatte, gefangen in nicht enden wollenden Diskussionen darüber ob, wie und wann diese abgebaut werden sollten. Die Dezentralisierung belebte die inhaltlichen Debatten, die zuvor in den Camps ins Stocken geraten waren. Außerdem beschlossen die Stadtteilversammlungen die Unterstützung der landesweiten Demonstrationen am 19. Juni, zu der verschiedene ArbeiterInnenkomitees unter dem Motto „Gemeinsam gegen Krise und Kapital“ aufrufen. Aus den Barrios wird auf den Kongress und die Rathäuser marschiert, um sie schlussendlich einzukreisen. „Nächste asamblea – im Kongress!“, rufen die Delegierten aus den Stadtteilen, ein neues Selbstbewusstsein ist hier im Entstehen.

 

Es scheint, als wäre damit ein Schritt nach vorne gemacht worden, der ein Zusammenfallen der Bewegung verhinderte. Die Dezentralisierung der Bewegung wird gleichzeitig von einer landesweiten Koordination begleitet, am ersten Juniwochenende haben sich 56 Städte in Madrid vernetzt und gemeinsame Forderungen und Mobilisierungen beschlossen. Der Sympathien der Bevölkerung kann sich 15M jedenfalls sicher sein. Laut einer in El Pais veröffentlichten Studie halten 81% der Befragten die Anliegen für berechtigt, 84% meinen, die Forderungen würden ihr Leben direkt betreffen. Für den 15. Oktober wird zu einer europaweiten Demonstration aufgerufen.

 

# Fabian Unterberger

 

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„Alle Macht den asambleas!“

Und sie bewegt sich doch! Auch wenn mensch in den letzten Tagen zumindest in Sol den Eindruck hatte, als drehe sie sich vor allem um sich selbst, zeigte die Bewegung gestern mit einer kraftvollen wenn auch kleinen Demo vor dem Kongress, wie viel Lust zum Widerstand noch in ihr steckt. Während die Abgeordneten im Parlament über die Reform der Kollektivverträge (1) debattierten, harrten 1500 – 2000 Leute vor der Polizeisperre sechs Stunden lang aus, um in nicht enden wollenden Sprechchören ihre Wut über die faktische Abschaffung der Kollektivverträge zum Ausdruck zu bringen. (Video).

In Toledo und in Valencia bildeten sich spontane Solidaritätsdemonstrationen. Mehrer Personen verbrachten die Nacht vor der valenzianischen Autonomiebehörde. Sie wurden am Vormittag um einige hundert DemonstrantInnen verstärkt, um gemeinsam gegen den aus den Regionalwahlen hervorgegangenen Kongress zu protestieren, in dem ein gutes Dutzend der Korruption angeklagte Abgeordnete sitzen. Zu Mittag kam es dort zu heftigen Polizeiangriffen auf die friedliche Menge, die sich weigerte den Weg für die Abgeordneten freizugeben. Damit hat nach den brutalen Attacken der Polizei Kataluniens, den berüchtigten „Mossos“, erstmals auch die policia nacional die Bewegung offen angegriffen. Die Abwartestrategie der Regierung scheint Risse zu zeigen, offenen Protest gegen die Abgeordneten nicht so einfach hingenommen zu werden. Umso gespannter wird der 11. Juni erwartet, an dem in allen Städten Spaniens zu Protesten gegen die aus den umstrittenen Wahlen hervorgegangenen Lokalregierungen  mobilisiert wird.

Die Bewegung löst sich damit aus der Lethargie, die sich über die acampadas zu legen begonnen hatte, gefangen in nicht enden wollenden Diskussionen darüber ob, wie und wann diese abgebaut werden sollten. Ein neuer Schwung an Mobilisierungen bringt frische Dynamik, die Abhaltung von über 120 barrioasambleas (Stadtteilversammlungen) allein im Großraum Madrid und unzähligen mehr in den anderen Städten und Dörfern Spaniens verschafft der Bewegung eine neue Basis. Das drückt sich zum einen in einer Belebung der inhaltlichen Debatten aus, die zuvor in den acampadas ins Stocken geraten waren. Zum anderen in einer von allen barrioasambleas beschlossenen Unterstützung der Demonstrationen unter dem Motto „Gemeinsam gegen Krise und Kapital“ am 19. Juni. Diese werden sich aus den barrios auf den Kongress zu bewegen um ihn schlussendlich einzukreisen. Im Aufruftext heißt es: „Wir lehnen den Pakt [Anm.:den die Gewerkschaften mit der Regierung geschlossen hat],der die Beschneidung von Rechten vorsieht, welche in Jahrzehnten des ArbeiterInnenkampfes erreicht wurden wie z.B wie im Fall der Pensionen oder der Kollektivverträge, grundsätzlich als Verrat an den ArbeiterInnen ab.“ Weiter: „Gegen die Arbeitslosigkeit: Klassenkampf!“. Nicht nur diese neue Welle an Mobilisierungen zeugt von einem wieder gewonnenen Klassenbewusstsein innerhalb der Bewegung, auch auf der Demonstration vor dem Kongress stach unter den Sprechchören immer wieder der Aufruf zum unbefristeten Generalstreik raus. Die offenen Angriffe auf ArbeiterInnen, wie eben die Reform der Kollektivverträge, sind hier nur weiteres Öl ins Feuer.

Es scheint, als wäre damit ein Schritt nach vorne gemacht worden, der ein Zusammenfallen der Bewegung verhinderte. Die acampadas in den kleineren Städten wurden zum großen Teil schon abgebaut, Madrid wird am Sonntag symbolisch in die an diesem Tag stattfindenden Stadtteilversammlungen marschieren. Die Dezentralisierung der Bewegung wird von einer landesweiten Koordination begleitet, am 4., 3. und 5. Juni haben sich 56 Städte in Madrid vernetzt und gemeinsame Forderungen und Mobilisierungen beschlossen. Das Instrument der Platzbesetzungen hat sich mittlerweile weitgehend erschöpft, wobei ein gesundes Verständnis dafür existiert, dass diese eben kein Selbstzweck sondern nur eine Etappe der Proteste darstellen. Während nicht alle asambleas den harten Konsens zur Entscheidungsfindung gewählt hatten, hatte sich in Madrid, wo ein Veto ausreicht um Prozesse lahm zu legen, die Debatte über Sinn und Zweck der acampada über mehrer Tage hingezogen. Obwohl alle Kommissionen und 99% der asamblea die Entscheidung, am Sonntag den Platz zu räumen, unterstützen, weigerte sich eine kleine Gruppe von BesetzerInnen diese zu akzeptieren und blockierte durch Veto. Nach stundenlangen emotionalen Diskussionen wurde ein Konsens beschlossen, der darin besteht, keine Entscheidung zu treffen. Die die bleiben wollen, bleiben, die die gehen, werden gehen. Klar ist, dass das nicht viele sein werden, unklar aber was im Falle einer (sehr wahrscheinlichen) Räumung dieser Leute passieren wird. Diese Debatte hatte jegliche inhaltliche Arbeit verhindert, die Dezentralisierung in die Barrios scheint damit ein Schritt in die richtige Richtung. Der Sympathien der Bevölkerung kann sich die Bewegung jedenfalls sicher sein. Laut einer in ElPais veröffentlichten Studie, halten 81% der Befragten die Anliegen von 15M für berechtigt, 84% meinen, die Forderungen würden ihr Leben direkt betreffen.

# Fabian Unterberger

(1)

Im Rahmen einer „inneren Flexibilisierung“ soll es möglich werden, auch innerhalb der Kollektivverträge Löhne kurzfristig zu senken, Stunden zu kürzen oder zu erhöhen usw. um auf Umsatzeinbrüche zu reagieren. Sektorverträge oder Unternehmensverträge sollen die Kollektivverträge mittelfristig ersetzten. Mit der automatischen Verlängerung der Kollektivverträge soll Schluss gemacht, die Löhne fortan an die Produktivitätsentwicklung
angebunden werden.

Quelle: http://www.facebook.com/event.php?eid=174157959311019&ref=mf

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Revolution made in Spain

Die Bewegung „Echte Demokratie jetzt!“ macht Modell. Sogar auf dem Karlsplatz in Wien entstand ein Protestcamp: „Yes we camp!“. Aus gegebenem Anlass hier eine Analyse von Spaniens innovativstem Exportprodukt.

 

von Fabian Unterberger

 

„Wir sind keine Ware in den Händen der Politiker und Banken!“. Die Bewegung 15M, in Anlehnung auf die jüngsten arabischen Demokratiebewegungen nach ihrem Geburtsdatum benannt, hält Spanien weiterhin in Atem. Auch international findet der Protest der „empörten BürgerInnen“ großes Echo. Im öffentlichen Raum manifestiert sich die Antithese zur scheinbaren Alternativlosigkeit der Krisenrezepte des IWF und der EU.

Die Eliten reagieren nervös: der von 20.000 Menschen besetzte Platz der Bastille in Paris wurde in Windeseile in Tränengas getaucht und geräumt, in Barcelona friedliche DemonstranInnen aller Altersgruppen brutal attackiert.

„Eine Mobilisierung wie diese“, schreibt die spanische Tageszeitung EL PUBLICO, „hat es in den letzten Jahren in Spanien nicht gegeben. Keine Gewerkschaft, keine Partei und keine große NGO scheint hinter diesen Protesten zu stecken.“

 

Vom Absturz zur Empörung

 

Ihre Wurzeln hat sie in der kürzlich gegründeten Plattform „Jugend ohne Zukunft“. Auf deren Mobilisierungen folgte der Aufruf des Bündnisses „Echte Demokratie jetzt!“ zu einer landesweiten Demonstration am 15. Mai, dem insgesamt 130.000 Menschen folgten. Dem Protest der Jungen hatten sich längst auch die älteren Generationen angeschlossen. Die Prekarisierung der Arbeits- und Lebensverhältnisse betrifft sie alle. 36% der Arbeitsverträge in Spanien waren 2006 befristet, sie waren die Ersten, die ab 2008 gekündigt wurden. Die Langzeitarbeitslosigkeit ist seit damals auf das Vierfache angestiegen, die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei über 40%. Die Breite der Bewegung spiegelt den Verarmungsprozess großer Teile der spanischen Gesellschaft wider. Von der Streichung der Langzeitarbeitslosenhilfe und jugendfeindlicher Bildungspolitik bis zur Einfrierung der Pensionen und der Anhebung des Antrittsalters auf 67: die Krisenpolitik der sozialdemokratischen Regierung Zapateros treibt Jung und Alt auf die Straße.

Die Legitimität der repräsentativen Demokratie liegt in Trümmern, die Mehrzahl der Bevölkerung sieht sich in keiner der Parteien oder Gewerkschaften repräsentiert. In den Kommunalwahlen vom 22. Mai stieg die Zahl der WeißwählerInnen auf knapp 600.000, damit sind sie die viertstärkste Kraft im Land nach PSOE, PP und IU. Die Bewegung hat damit eine recht diffuse und affektive „Empörung“ zur einenden Grundlage und bewegt sich abseits ideologischer Schemata oder politischer Traditionen.

 

Zwischen Minimal- und Maximaldiskurs

 

Was der breiten Mobilisierung förderlich, entpuppte sich im entfalteten Prozess angesichts mühsamer und stockender Debatten über gemeinsame Forderungen als Stolperstein. Um die inhaltliche Dimension der Bewegung zu erahnen, lohnt sich aber ein Blick auf die Homepage der Plattform „Echte Demokratie Jetzt!“. Von der Aufteilung der Arbeit ist da die Rede, von partizipativer Demokratie und dem Recht auf Wohnen. Während diese Forderungen keineswegs überall konsensfähig sind, geht in weiten Teilen der Bewegung der Diskurs darüber hinaus. „Wir wollen diese repräsentative Demokratie nicht mehr, die immer die gleichen gebrochenen Wahlversprechen zur Grundlage hat, mit Politikern, die machen was sie wollen anstatt dem Volk zu dienen und selbst knietief im Korruptionssumpf stecken.“, meint etwa Aguirre Such, Sprecher des Protestcamps in Madrid.

 

Ausblick

 

Die inhaltliche Dimension der Bewegung ist allerdings sehr dynamisch, organisiert sie sich doch in offenen Asambleas (Versammlungen) und bietet damit Raum für vielfältige Vorstellungen. Nach wochenlangen Asambleas in den Zentren der Städte verlagern sich diese nun langsam in die Bezirke, nur noch alle 14 Tage soll eine zentrale Asamblea General am Hauptplatz abgehalten werden. Der Dezentralisierungsprozess hat der Bewegung neuen Schwung verschafft, allein im Großraum Madrid partizipierten 25.000 Menschen in 120 Bezirksversammlungen. Sie alle sprachen sich dafür aus, den am 19. Juni geplanten Sternmarsch auf das Parlament in Madrid zu unterstützen, der unter dem Motto „Gemeinsam gegen die Krise und das Kapital“ stattfinden wird. Damit wird „Echte Demokratie jetzt!“ in Spanien wohl auch in nächster Zeit nicht so schnell von der Bildfläche verschwinden. Ob das Modell im Rest Europas Schule machen wird, hängt allerdings davon ab ob es gelingt, klare Alternativen zur neoliberalen Krisenstrategie zu entwickeln und ein Organisationsmodell zu finden, das die Vor- und Nachteile der Horizontalität unter einen Hut bringt. Bisher scheint dem nur bedingt so zu sein, einendes Element bleibt die „Empörung“.  Die europaweite Mobilisierung #europeanrevolution am 29. Mai fand demnach außerhalb Spaniens, Griechenlands und Frankreichs kaum Resonanz. Um der anspruchsvollen Aufgabe der Neuentdeckung und Besetzung politischen Raumes gerecht zu werden, wird es wohl auch in Wien mehr brauchen als ein „Yes we camp!“.

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Alle müssen gehen – Que se vayan todos!

Spanien wird derzeit von der größten Protestwelle der letzten Jahre erfasst. Getragen wird sie von einer breiten Koalition derer, die von der verlautbarten wirtschaftlichen Erholung nichts spüren. Sie organisieren sich nach dem Vorbild der arabischen Revolutionen über Facebook und Twitter, besetzten öffentliche Plätze und verlangen Zukunft, Würde und „echte Demokratie“.

                            

von Fabian Unterberger und Viola Singer

 

„Que se vayan todos!“ – Alle müssen gehen! Mit dieser Botschaft drückt auf unzähligen Plätzen Spaniens eine enttäuschte und frustrierte Generation ihren Unwillen aus, der rasanten Verschlechterung ihrer Lebens- und Arbeitsverhältnisse weiterhin zuzuschauen. In mindestens 27 Städten des Landes besetzten AktivistInnen seit dem 15. Mai Hauptplätze und verwandelten sie in Protestcamps, in denen diskutiert, vernetzt und organisiert wird.

 

In Barcelona lautet die Botschaft des Protestcamps am Plaza Catalunya: „Wir gehen erst, wenn die Dinge sich ändern“, auch in Sevilla, Zaragoza und Bilbao gab es Besetzungen und Versammlungen. Nachdem in Madrid ein erster Versuch, ein Camp am Platz Puerta de Sol zu errichten, von der Polizei am Dienstagmorgen geräumt wurde, fanden sich am Abend desselben Tages 10.000 Menschen am Platz ein, sämtlichen Abriegelungsversuchen der Polizei zum Trotz. „Wir sind gekommen um zu bleiben“ klang es aus dem kleinen Lautsprecher, der hoch über die Köpfe der Versammlung gehalten wurde, um auch die hinteren Reihen zu erreichen. Der Sprecher der Besetzung in Sol, Pablo Gomez, erklärt: „Sie sind zu weit gegangen, haben uns alles genommen. Jetzt ist es Zeit aufzustehen und uns das zurückzuholen, was uns gehört.“

 

Spontan wurde eine improvisierte Infrastruktur organisiert, Zelte aufgezogen, Matratzen und Sofas auf den Platz gezerrt. Die Menschen, die sich hier versammeln um an Stelle ihrer individuellen Schicksale einen gemeinsamen Kampf zu setzen, kommen aus allen sozialen Sektoren, deren Lebensumstände sich in den letzten Jahren dramatisch verschlechtert haben. Eine Mobilisierung wie diese, schreibt die spanische Tageszeitung EL PUBLICO, „hat es in den letzten Jahren in Spanien nicht gegeben. Keine Gewerkschaft, keine Partei und keine große NGO scheint hinter diesen Protesten zu stecken.“ 2000 Menschen verbrachten in Madrid dann auch tatsächlich die Nacht unter freiem Himmel, während die massiv mobilisierte Polizei dem Treiben tatenlos zusehen musste.

 

Auftakt der vielfältigen Kampagne bildeten die Demonstrationen des 15. Mai, die unter dem Motto „Wir sind keine Ware in den Händen der Politiker und Banker“ in Spaniens Hauptstädten stattfanden. Mit 40.000 TeilnehmerInnen in Madrid und 20.000 in Barcelona, stellen sie die größten Mobilisierungen seit den Protesten gegen den Irakkrieg 2003 dar. In ganz Spanien waren 130.000 Menschen auf den Straßen. Zwei Monate lang wurde mit einem breiten Aufruftext mobilisiert, beginnend mit den Sätzen „Wir sind normale Menschen. Wir sind wie du: Menschen, die jeden Morgen aufstehen, um zu studieren, zur Arbeit zu gehen oder einen Job zu finden.“ Der Breite wurde allerdings inhaltliche Schärfe geopfert, Forderungen oder gar Alternativen zum herrschenden Zustand waren im Aufruf kaum zu finden. Vielmehr drückte er eine diffuses Unwohlsein und allgemeine Frustration aus.

 

Konkreter wurde es dann auf den Asambleas (Versammlungen mit beratendem Charakter), die anschließend an die Demonstrationen in den Protestcamps eingerichtet wurden und immer noch andauern. Urnen gingen die Runde, um Vorschläge und Ideen zu sammeln, die dann von einer Arbeitsgruppe ausgewertet wurden. Forderungen, wie die nach einer Aufteilung der Arbeit und einer Verkürzung der Arbeitszeit bis Vollbeschäftigung erreicht sei, oder der nach einer „Partizipativen Demokratie“, waren das Ergebnis dieses demokratischen Austauschprozesses. Lydia Posada, Sprecherin des Camps am Platz Puerta del Sol in Madrid meinte am Dienstagabend: „Unser Ziel ist es nun, eine Versammlung abzuhalten, um zu sehen, wie es mit den Protesten und den Camps weitergehen soll“.

 

Weitergehen zumindest soll es. Bis zu den Kommunalwahlen am 22. Mai wollen die AktivistInnen die Camps aufrechterhalten. „No nos representan – no les votas!“ – „Sie repräsentieren uns nicht, wählt sie nicht“ – lautet deren Botschaft. Mit einer Arbeitslosenrate von fast 5 Millionen, d.h. 20%, verzeichnet Spanien den höchsten Stand seit 1976, die Jugendarbeitslosigkeit erreicht mit über 40% nie gekannte Ausmaße. Die aktuellen Proteste bringen die Wut über die hohe Arbeitslosenrate und damit einhergehende Perspektivenlosigkeit, die Kürzungen im Sozialbereich, sowie das Parteiensystem zum Ausdruck. PP und PSOE werden Korruption und Veruntreuungen vorgeworfen. Unter Ministerpräsident Zapatero wurde Anfang September 2010 eine Arbeitsmarktreform verabschiedet, die die Arbeitsverhältnisse weitgehend flexibilisierte. Neben der faktischen Abschaffung des Kündigungsschutzes und der Ausweitung von Kurzarbeit wird es Arbeitslosen erschwert, Arbeits- oder Weiterbildungsangebote auszuschlagen. Wer diese ablehnt, ist mit Leistungskürzungen konfrontiert. Mit einem Generalstreik am 29. September hatten die Gewerkschaften gegen die neue Reform protestiert, doch das Land lahm zu legen und eine breite Mobilisierung zu erreichen, gelang ihnen nicht. Laut aktuellen Umfragen stürzte die Regierungspartei PSOE auf 33,4% ab und wurde von der PP mit  43,8 % überholt. Von dieser wird allerdings erwartet, dass sie den unpopulären Sparkurs der Regierung Zapateros noch weiter verschärfen wird.

 

Die Ablehnung des Zweiparteiensystems drückt sich in Sprüchen wie: „Ni PP, ni PSOE“ – „Weder PP, noch PSOE“ oder „PP, PSOE la misma mierda es“ – „PP, PSOE ist die gleiche Scheiße“ aus. Es wird aufgerufen keiner der beiden Parteien eine Stimme zu geben und/oder kleinere Parteien zu wählen. Die Ablehnung des politischen Systems geht bei vielen der Protestierenden aber durchaus noch weiter. So meint Aguierre Such, Aktivist der Besetzung von Sol: „Wir wollen diese repräsentative Demokratie nicht mehr, die immer die gleichen gebrochenen Wahlversprechen zur Grundlage hat, mit Politikern, die machen was sie wollen anstatt dem Volk zu dienen und selbst knietief im Korruptionssumpf stecken.“

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